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Objektführer/ Netzwerk Industriekultur Bergisches Land

Solingen_Müngstener Brücke
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Müngstener BrückeFoto 2012

Walter Buschmann
Müngstener Brücke

Wie bei allen Großbrücken des 19. und 20. Jahrhunderts besticht und beeindruckt die Müngstener Brücke zunächst durch ihre schiere Größe, zudem aber auch durch ihre formvollendete Gestaltung und ihre landschaftliche Lage. Eingelagert zwischen hohen Bergrücken überspannt die 465m lange Stahlkonstruktion 107m über der Wupper den tiefen Taleinschnitt zwischen Solingen und Remscheid und verbindet diese nur 8km auseinander liegenden und zuvor unzureichend über Schienenwege verbundenen Städte. Das beherrschende Konstruktionselement ist der 180m weite Bogen(äußere Stützweite)über dem Fluss. Bogen und sechs Gerüstpfeiler in Stahlfachwerk tragen die als Parallelfachwerke ausgeführten Fahrbahnträger, auf denen die beiden Gleistrassen montiert sind. Zur Faszination des Bauwerks trägt besonders der großformatige Bogen bei. Mit seinen Fußpunkten auf die Felshänge gestützt verdeutlicht dieses Bauteil unvergleichlich eindringlich und auch dem Laien nachvollziehbar die Gesetzmäßigkeiten der Statik, mit den von oben aus dem Bahnverkehr resultierenden Lasten, die das notwendige Widerlager im festen und sich dem Bogen förmlich entgegenstemmenden Untergrund finden. Die Müngstener Brücke gehört zu den Bogenbrücken und ist in der Geschichte dieser Brückengattung ein Glanzstück für die Entwicklung dieser Bautechnik, für die Entwicklung der Eisen- und Stahlkonstruktionen und generell für ein mathematisch-wissenschaftlich orientiertes Bauwesen sowie für ein geradezu spektakulär landschaftsbezogenes Bauens.

Bogenbrücken  
Spätestens seit der Antike ist der Bogen - damals in Stein oder Holz erbaut – ein Mittel zur konstruktiven Überwindung kleinerer und größerer Spannweiten, war ein plausibler Ausdruck des Tragens und Lastens, beeindruckte ästhetisch durch die reizvolle Linienführung, durch seinen eleganten oder bei größeren Spannweiten auch wuchtigen Schwung. Dieser Ästhetik folgten die Projekte für gusseiserne Brücken im 18. Jahrhundert mit einer ersten Realisation 1776-79 für die Brücke über den Severn unweit von Birmingham, in dem nach dieser Brücke auch benannten Ort Ironbridge. Wie in allen Sektoren des Stahlbaus erlebten auch die Bogenkonstruktionen durch die Herstellung von Stahl als Massenprodukt seit Erfindung des Puddelverfahrens 1784 und dessen Verbreitung auf dem europäischen Kontinent(seit 1816/24 in Deutschland) einen kräftigen Auftrieb. Die ersten großen Stahl-Bogenbrücken in Deutschland entstanden über den Rhein: bei Koblenz-Paffendorf 1861-64, die Hochfelder Brücke bei Duisburg 1873 und die zweite Koblenzer Rheinbrücke bei Horchheim 1876-79. Diese frühen Bogenbrücken sind leider nicht erhalten.

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Hochfelder Brücke, Duisburg. 1873

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Duoro-Brücke bei Porto, Portugal. 1881-86

Lange standen die Bogenbrücken im Schatten der statisch früher beherrschbaren Balkenbrücken. Erst in den 1870er Jahren entwickelte man eine Theorie der Bogenkonstruktionen, deren Resultate zugleich durch die Elastizitätslehre und die graphische Statik gestützt wurden. Begünstigt durch die ästhetische Faszination des Bogens entstanden allein in den drei Jahrzehnten von 1860 bis 1890 weltweit 18 Bogenbrücken mit Spannweiten von über 90 Meter(Mehrtens 1908, S. 654). Höhepunkte waren dabei die Maria Pia Brücke über den Duoro im Norden Portugals von 1876-77, der Garabit-Viadukt über den Truyére in Südfrankreich 1882-85, beide nach Entwürfen aus dem Büro von Gustave Eiffel. Auch die zweite Brücke über den Douro bei Oporto 1881-86 war eine Bogenbrücke, erbaut von Théophile Seyring und Léopold Valentin. Diese Brücken belegten einmal mehr die hohe Kunst des französischen Ingenieurwesens und trugen wesentlich nicht nur zum Image von Gustave Eiffel sondern auch zum Ansehen der Leistungskraft Frankreichs bei. Bei beiden Eiffel-Brücken und der zweiten Oporto-Brücke waren die Bögen sichelförmig ausgebildet mit spitz zulaufenden Fußausbildungen und einer Lagerung der Bögen auf Gelenken.

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Bogenbrücken im Vergleich: Kirchfeldbrücke Bern (1881-83) - Garabit-Viadukt / Truyére 1882-85 - Brücke über Nord-Ostsee-Kanal bei Gründenthal, 1891-92 - Rheinbrücke Bonn, 1897-99 - Rheinbrücke Düsseldorf, 1897-99 - Hell Gate Bridge Ney York, 1914-16

Der Müngstener Brücke gingen im deutschen Sprachraum als große Bogenkonstruktionen unmittelbar die Mainzer Straßenbrücke(1882-85) und die Kirchenfeldbrücke(1881-83) über die Aare bei Bern voraus. Schon die Brücken über den Nord-Ostsee-Kanal bei Grünenthal und Levensau(1891-94) waren von dem Motiv geprägt, den spektakulären Bogenbrücken von Eiffel in Frankreich und Portugal zwei gleichwertige Beispiele als nationale Prestigeprojekte entgegen zu stellen. Mit der von MAN erbauten und der Müngstener Brücke unmittelbar vorausgehenden Brücke in Grünenthal(1891-92 – nicht erhalten) wurden die Eiffel-Brücken ein- und mit der Brücke in Kiel-Levensau(1892-94) überholt. Auch die Müngstener Brücke ist vermutlich ohne diesen Wettbewerbsgedanken mit nationalem Repräsentationsanspruch nicht zu denken.

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Straßenbrücke Mainz. 1882-85

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Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal. Kiel-Levensau. Foto 2005

Gegründet auf den mathematisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten zur eindeutigen Bestimmung der Bogentragwerke wurden die 1890er Jahre zu einer Boomzeit für den Bau von Bogenbrücken in Deutschland. Allein über den Rhein entstanden in diesem Jahrzehnt 11 Bogenbrücken(Hammer, S. 173) von denen die Brücken in Bonn, Düsseldorf und Worms( alle zwischen 1897 und 99 erbaut und im Krieg zerstört) besonders zu nennen wären. Brücken mit unterliegendem Bogen und aufgeständerten Fahrbahnen wurden dabei aus ästhetischen Gründen bevorzugt, weil das Tragsystem dem Betrachter unmittelbar deutlich wird (Hammer, S. 226). Große Bedeutung erlangten die Bogenbrücken mit aufgehobenen Horizontalschub durch Einbau von Zugbändern zwischen den Fußpunkten der Bögen. Mit Verlagerung der aussteifenden Diagonalstäbe zwischen zwei hochliegende bogenförmige Unter- und Obergurte und Aufhängung der Fahrbahnen an Zugstangen ergab sich ein charakteristisches, besonders in Deutschland häufig realisiertes Brückenbild, das diesem Konstruktionsprinzip den Namen „Deutscher Bogen“ einbrachte( vgl. Hohenzollerbrücke in Köln, 1906-11). Auch Auslegerbrücken wurden teilweise wie Bogenbrücken ausgebildet. Die Kölner Südbrücke(1906-10) ist dafür ein gutes Beispiel. Trotz formaler Übereinstimmung mit den echten Bogenbrücken folgen die zuletzt genannten Brücken anderen Konstruktionsprinzipien (Mehrtens, S. 682).

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Rheinbrücke Düsseldorf. 1897-99

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Hohenzollernbrücke Köln. 1906-11. Foto 2005

Das 20. Jahrhundert wurde dann zum Schauplatz immer größer werdender Bogenbrücken. Auch hier wuchsen – wie bei allen anderen Brückentypen – die Dimensionen ins Gigantische. Den Anfang machte die Hell Gate Bridge 1912-16 über den East River in New York mit 298m Spannweite für den Hauptbogen und einer Gesamtlänge von 5,2km. Diese Brücke wurde zum Vorbild für die Sidney Harbour Bridge 1924-32 mit 503m Spannweite und die absichtlich aus Prestigegründen um 0,6m weiter gespannte Bayonne Bridge 1928-31 über den Kill van Kull in New York. Hier wird erneut deutlich, wie stark noch im 20. Jahrhundert die Rivalität zwischen Staaten und Kontinenten über die sich immer weiter überbietenden Maße von Großbauwerken ausgetragen wurde. Noch übertroffen wurden die beiden US-amerikanischen und die australische Brücke von zwei Brückenbauten aus jüngster Zeit in China, der Lupu-Brücke im Zentrum von Shanghai(Fertigstellung 2009, Spannweite 550m) und einer ebenfalls 2009 eröffneten Bogenbrücke über den Yangtse bei Chongqing mit 552m.

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Hell Gate Bridge. New York. 1912-16

Die Müngstener Brücke ist in dieser Entwicklung ein wichtiger Baustein gewesen, besonders wegen der erstmaligen Umsetzung theoretischer, im deutschen Sprachraum erarbeiteter Grundlagen.

Entwicklung des Statikwissens als Grundlage des Großbrückenbaus
Wegen der Bewältigung großer Spannweiten waren Brücken, wie auch Hallen stets im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts Ausgangspunkte für die Herausbildung theoretisch-wissenschaftlicher Grundlagen, die dann dem Bauwesen insgesamt zu Gute kamen. Eisen und Stahl wurden als neue Baustoffe zu den fruchtbarsten Anregern der Ingenieurwissenschaften. Die Notwendigkeit zur sparsamen Anwendung des Materials in einem Anfang des 19. Jahrhunderts noch rückständigen Industrieland wie Deutschland zwang zur exakten Berechnung und Bemessung der Bauteile (Straub 1975, S. 218 ) und zeugte eine Grundhaltung, die auch in der Zeit nach 1850 und im 20. Jahrhundert besonders in den Zeiten der Materialknappheit vor, während und nach den Weltkriegen anhielt. Einige wichtige Stationen der Entwicklung  bis zur Beherrschung der Bogenkonstruktionen seien des besseren Verständnisses halber erwähnt.

Als Begründer der rechnenden Baustatik gilt der Franzose Louis Marie Henri Navier(1785-36), der wichtige Grundlagen 1826 schuf. Carl Culmann(1821-81) entwickelte während seiner Lehrtätigkeit am Polytechnikum Zürich grundlegende Arbeiten über Fachwerkkonstruktionen, ausgehend von Brückenbauten amerikanischer Ingenieure und abzielend auf einen theoretisch begründeten Großbrückenbau in Europa. Aufbauend auf den Arbeiten von Culmann veröffentlichten Luigi Cremona(1830-1903) und August Ritter(1826-1908) die nach ihnen benannten Verfahren zur grafischen Bestimmung von Stabkräften im Fachwerk. Optimierte Konstruktionsformen mit dem Motiv zur exakten Berechnung und Bemessung der Bauteile entwickelten für den Brückenbau Johann Wilhelm Schwedler, Friedrich August Pauli und Heinrich Gerber. Deutschland wurde zu dem Land in Europa mit den wohl höchsten Ansprüchen an exakte Berechnungsmethoden.

In diesem Bestreben gab es über Jahrzehnte hinweg eine Tendenz zur Einfügung von Gelenken, mit denen die Eisen- und Stahlkonstruktionen berechnet werden konnten. Heinrich Gerber - eine der bestimmenden Figuren in diesen Bestrebungen nahm 1866 auf den von ihm entwickelten Auslegerträger ein Patent. Die Praxis war ihm allerdings vorausgeeilt. Schon 1858 entstand die erste Bogenbrücke mit zwei Gelenken an den Auflagern. Johann Wilhelm Schwedler baute 1863 einen Dreigelenkbogen für das Hammerwerk II des Bochumer Vereins: die erste Halle weltweit in Dreigelenkkonstruktion. Emil Winkler gelang es dann 1868 die Zwei- und Dreigelenkbögen theoretisch zu bestimmen (Hartung 1983, S. 38). In den 1870er Jahren wurde die Theorie der Bogenbrücke durch Bresse, Winkler, Sternberg, Fränkel, Engesser, Mohr, Kübler, Weyrauch, Müller Breslau, Ritter-Zürich u. a. zusehends weiter entwickelt. Durch Ausbildung der Elastizitätslehre gelang es, in Verbindung mit der graphischen Statik auch statisch unbestimmte Bogentragwerke zu berechnen. Maßgeblichen Anteil hatte erneut der in Prag und Wien an den dortigen Hochschulen lehrende Emil Winkler. Ohne diese theoretischen Arbeiten wären die erwähnten Bogenbrücken der 1880er Jahre nicht möglich gewesen. Es waren auch die Grundlagen für die Müngstener Brücke.

Die Müngstener Brücke wurde mit an den Fußpunkten eingespannte, d. h. fest mit dem Untergrund verankerte Bogenbrücke errichtet. Diese Konstruktion bot die Möglichkeit zum Freivorbau, war aber dreifach statisch unbestimmt und stellte damit – trotz der vorliegenden theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen – für  Bauherrn und Konstrukteure ein Wagnis dar. Die der Müngstener Brücke vorausgehende Kirchenfeldbrücke bei Bern zeigte nach dem Bau so starke Schwankungen, dass die Pfeiler nachträglich in Beton eingehüllt werden mussten. Die Entstehungsgeschichte der Müngstener Brücke ist ein Lehrstück für die optimale Reduktion der bekannten Risiken. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen und Entscheidungen bei der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg(MAN). MAN war als Sieger aus einem Wettbewerbsverfahren mit den Konkurrenten Gutehoffnungshütte(Oberhausen) und Harkort(Duisburg) hervorgegangen. MAN war mit dem Werk Gustavsburg bei Mainz eine der großen Brückenbaufirmen in Deutschland. Im Einvernehmen mit der Königlichen Eisenbahndirektion Elberfeld untersuchte MAN sowohl die Bogenkonstruktion mit wie auch ohne Gelenke. Wie es in den Erinnerungen Rieppels heißt, wurde jedoch „rasch“ eine Entscheidung zugunsten des Bogens ohne Gelenke getroffen. Der eingespannte Bogen erwies sich als günstiger für den Montagevorgang und beanspruchte weniger Material als der Gelenkbogen (Kohlmaier, S. 133).

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Müngstener Brücke, Systemskizze

Mit dieser Entscheidung musste Rieppel abweichen von einer bisher die süddeutsche Schule des Brückenbaus beherrschende Gewohnheit. Diese süddeutsche Schule war wesentlich geprägt auch durch Heinrich Gerber, der als Vorgänger von Anton Rieppel seit 1857 die MAN-Brückenbauanstalt Gustavsburg leitete und verständlicherweise seine Gelenkkonstruktionen allen anderen zumal risikobehafteten Konstruktionsarten bevorzugte (Rieppel 1897, S. 27).Anton Rieppel arbeitete seit 1874 bei Gerber, wurde 1876 Betriebsleiter in Gustavsburg und galt als sein begabtester Schüler. Der Wechsel von den Gelenk- zu den eingespannten Bogenkonstruktionen wurde sicher durch die theoretischen Arbeiten besonders von Emil Winkler 1868 beeinflusst. Mit Bernhard Rudolf Bilfinger(1829-1897), der seit 1854 leitender Ingenieur bei der Brückenbaufirma Benckiser in Pforzheim und Ludwigshafen war, kam in den 1880er Jahren zudem ein Konstrukteur zu MAN Gustavsburg, der mit Beziehungen nach Frankreich und in die Schweiz auch schon mit unbestimmten statischen Systemen gearbeitet hatte. Der Übergang von den Gelenkbogenbrücken zu einer statisch unbestimmten Bogenbrücke mit eingespannten Fußpunkten könnte wesentlich durch Bilfinger bewirkt worden sein. Die Müngstener Brücke vereinigt die von Benckiser und Bilfinger verwendete Technik mit dem technischen Erfahrungsschatz von MAN (Mehrtens, S. 577).

In vielen Publikationen zur Müngstener Brücke, besonders auch in den Texten der beiden Insider Rieppel und Dietz wird auf die sorgfältige Berechnung des Brückentragwerks verwiesen. Beteiligt waren an den Berechnungen unter Rieppels Leitung die beiden Ingenieure Friedrich Bohny und Wilhelm Dietz sowie aus der Eisenbahnverwaltung Regierungsbaumeister Carstanjen. Die Details wurden von Oberingenieur Herrmann ausgearbeitet. Über die Rolle Bilfinger heißt es, er habe in der Brückenbauanstalt Gustavsburg die Werksleitung ausgeübt. Carstanjen wechselte 1895 aus der Eisenbahnverwaltung in das Unternehmen der Brückenbauanstalt MAN-Gustavsburg und wird dort sicher auch weiterhin an Disposition und Berechnungen der Brücke gearbeitet haben. Wie der Anteil dieser Personen am Ergebnis war, lässt sich mit heutigem Wissen nicht exakt darstellen. Anton Rieppel, seit 1889 in den Vorstand des Unternehmens berufen und seit 1892 alleiniger Vorstand der Maschinenbau AG Nürnberg, hatte sicher einen großen Anteil an Entwurf und Berechnung der Brücke, war aber ebenso sicher in seiner leitenden Funktion für das Unternehmen auf die Mitwirkung seiner Mitarbeiter angewiesen.  

Wilhelm Dietz erhielt 1897 einen Ruf an die Technische Universität München und berichtete aus dieser Position ausführlich in einer umfangreichen Dokumentation 1904 über die Berechnungen für die Müngstener Brücke. Dietz 1904 Nach dieser Darstellung wurde die Brücke dreifach berechnet. Zuerst erfolgte eine grafische Ermittlung der Kräfte nach Carl Cullmann und Luigi Cremona. Anschließend wurden die Erstergebnisse durch eine analytisch durchgeführte Untersuchung nachgerechnet. Die beiden Ergebnisse wurden der Königlichen Eisenbahndirektion Wuppertal vorgelegt. Dort erfolgte eine eingehende Durchsicht und Überprüfung sowohl für den Gang der Berechnung, für die Endergebnisse und für die einzelnen Belastungsfälle. Die Überprüfung erfolgte mit vielfach neuen, von den vorliegenden Berechnungen abweichenden Methoden. Dadurch wurden also drei verschiedenartige Gesamtberechnungen der Bogenbrücke durchgeführt (Dietz, W.: Die Kaiser Wilhelm-Brücke über die Wupper bei Müngsten im Zuge der Eisenbahnlinie Solingen-Remscheid. 2 Bde, Berlin 1904. Bd. 1, S. 29).

Erst aus der Einbindung in die deutsche und internationale Geschichte der Stahlkonstruktionen und des Brückenbaus erschließt sich vollständig die Bedeutung des von Wilhelm Dietz am Ende seiner ausführlichen Darstellung gezogenen Fazits: “Die deutsche Technik, gewohnt, ihre Werke nur auf völlig sicherer wissenschaftlicher Begründung aufzubauen, hat sich demgemäß nicht sprungweise, sondern in gleichmäßiger Stetigkeit und Sicherheit voranschreitend entwickelt. Auch bei der Müngstener Brücke ging man mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit vor. Die Konstrukteure sowohl als die ausführenden Ingenieure setzten ihren Stolz darein, jedem möglichen Kräftespiel nachzuspüren und ihm in der zuverlässigsten Weise Rechnung zu tragen.“

Erkennbar wird in diesem Zitat der von den Ingenieurwissenschaften im deutschsprachigen Raum errungene Vorsprung gegenüber anderen Ländern, zugleich auch der Anspruch die wissenschaftliche Theorie mit diesem Bauwerk optimal in die bauliche Praxis umgesetzt zu haben. Die Müngstener Brücke gilt als das beste Beispiel für ein erfolgreiches Zusammenwirken von Theorie und Praxis im Bauwesen und eine Pionierleistung bei der auf exakten Berechnungen basierenden Verwirklichung eines aus dem eingespannten Bogen resultierenden statisch dreifach unbestimmten Systems.

Gestaltung
In der Bewertung von Ingenieurbauwerken des 19. Jahrhunderts gibt es eine lange Tradition für die Einstufung, dass diese Bauten allein aus den statischen Verhältnissen heraus erklärbar sind. Maßgeblich dafür waren die Protagonisten der Klassischen Moderne. Deutlich äußerte sich dazu Le Corbusier: „Ingenieur-Ästhetik…Der Ingenieur, belehrt durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch die Berechnung, steht in Einklang mit den Gesetzen des Alls. Er erreicht die Harmonie…Auf die Berechnung sich stützend, verwerten die Ingenieure geometrische Formen und befriedigen so unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre Werke sind auf dem Weg zur großen Kunst.“ (Le Corbusier: Kommende Baukunst, Berlin 1926, S. 1/7) Zur Einführung in diesen Abschnitt seiner programmatischen Schrift zeigte Le Corbusier über der Überschrift „Ingenieur-Ästhetik“ das Garabit-Viadukt von Gustave Eiffel. Auch wenn Le Corbusier dies wohl nicht intendiert hat, förderte er mit seiner Art der Darstellung eine Auffassung mit einer Art Automatismus zwischen allein aus der Statik heraus entwickelten Konstruktionen und einer daraus folgenden hochklassigen Ästhetik.

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Le Corbusier: Vers une architecture, 1922/26

Aus der Geschichte des Ingenieurwesens und insbesondere auch der Brückenbauten wissen wir inzwischen, dass es in vielen Fällen zusätzlich zur Umsetzung statischer Überlegungen und Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen zusätzlich auch gestalterische Vorstellungen gab. Gut nachgewiesen ist das beispielsweise für eine Reihe von Rheinbrücken. Um einer Verunstaltung der im Zuge des Rheintourismus schon im 19. Jahrhundert hoch geschätzten Stadt- und Landschaftsbilder zu vermeiden, gab es erhebliche Bemühungen für eine angemessene Gestaltung der Rheinbrücken. Die Beauftragung renommierter Architekten wie Friedrich von Thiersch(Mainz), Franz Schwechten(Hohenzollern- und Südbrücke/Köln) und Bruno Möhring(Worms) sowie die Ausschreibung von Wettbewerben für die Straßenbrücken in Mainz 1881, Mannheim 1887, Worms 1897 zeigen die nach 1900 noch ansteigenden Anforderungen an wohl gestaltete Brückenkonstruktionen. Auch wenn die Architektenleistungen anfangs sich beschränkten oder zumindest konzentrierten auf die bei den Rheinbrücken üblichen Torbauten als Übergang zwischen dem über dem Strom errichteten Ingenieurkonstruktionen und den umsorgten Stadtbildern, waren auch die Tragwerke selbst Gegenstand gestalterischer Überlegungen. Der bereits genannte „Deutsche Bogen“ war auch wesentlich von der Hoffnung getragen, dass mit dieser Konstruktionsform der Blick auf die Stadtbilder weniger verstellt werde, als durch die Balkenbrücken.

Mehr noch als die Balkenbrücken und Deutschen Bögen mussten die echten Bogenbrücken die an sie gestellten besonders hohen gestalterischen Erwartungen erfüllen. So ist die Wahl des Bogens auch für die Müngstener Brücke eine erste, sehr stark von ästhetischen Gesichtspunkten bestimmte Entscheidung gewesen. Wie aus der gut dokumentierten Planungsgeschichte der Müngstener Brücke hervorgeht, wurden zwar alternative Konstruktionsformen untersucht. Die vom Ministerium für öffentliche Bauten in Berlin bevorzugte Gerüstträgerbrücke wurde jedoch von der Königlichen Eisenbahndirektion Elberfeld abgelehnt, weil die Landschaft negativ beeinflusst werden könne. Das Tal der Wupper sei ein landschaftlich reizvolles Ausflugsgebiet und die Ästhetik sei daher gebührend zu berücksichtigen (Berg 1997, S. 28). Mit Rücksicht auf die Schönheit des Tales sei auch eine Auslegerbrücke in Bogenform einer Gerüstträgerbrücke vorzuziehen( Dietz, Bd. 1, S. 3. – Rieppel, S. 25.).Die Opposition der Eisenbahndirektion veranlasste das Ministerium dann im Zuge der Ausschreibung alle drei Konstruktionsformen untersuchen zu lassen, mit dem Ergebnis, dass sich die Bogenbrücke nicht nur in ästhetischer Hinsicht sondern auch hinsichtlich der Kosten und der Montagetechnik als die bessere bzw. günstigere Brückenform erwies.

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Müngstener Brücke. Foto 1993

Gerühmt wurde die Müngstener Brücke auch hinsichtlich der wohlausgewogenen Proportionen und ihrer harmonischen Symmetrie (Walbrach 2001, S. 48).Dazu trägt die parabelförmige Bogenform mit mehrfach geneigten Ebenen bei. Zunächst verjüngt sich der Bogen in der Breite von 19 Meter an den Fußpunkten bis auf 5,5 Meter unter den Gerüst- oder Fahrbahnträgern. Diese Schrägstellung der Bogenaußenwände wird ergänzt durch eine weitere Neigung der Fachwerkebenen aus der Lotrechten nach innen zur imaginären Mittelachse hin. Beide Schrägstellungen sind statisch bedingt: die Fußpunkte mussten zur Verankerung des Bogens diese Breite haben und die Neigung der Bogenaußenwände gegen die Mittelachse soll den Horizontalkräften aus Wind entgegenwirken. Zugleich bewirken aber diese Maßnahmen eine beeindruckende Eleganz der Linienführung.

War diese Formgebung also sehr stark durch statische Überlegungen bedingt, erfolgte die Binnengliederung der Fachwerke auch auf Grund gestalterischer Überlegungen. Gewählt wurden einfache Dreiecksverbände als Kombination aus waagerechten Riegeln und diagonalen Streben. Die Breite der Gefache von 7,5 Meter ergab sich aus den Berechnungen des Bogens. Der Ästhetik wegen wurden diese Maße auf die Gerüstbrücken übertragen, so dass für Bogen und die Parallelfachwerke ein gleichmäßiges Netz aus Diagonalen, Vertikal- und Horizontalstäben entstand. Das Streben nach Klarheit und Einfachheit in der Anordnung mit einfachen Dreiecksfüllungen entsprang dem Motiv der eindeutigen Führung der äußeren Kräfte, führte aber durch die keineswegs zwingende Einheitlichkeit in der Gesamtgestaltung zu der befriedigenden Formgebung (Dietz, Bd. 1, S. 9  ).

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Müngstener Brücke. Fahrträger

Bedeutung
Im internationale Vergleich ist die „Riesenbrücke bei Müngsten“ weder die erste Bogenbrücke dieser Art gewesen, es ist nicht die größte, höchste oder hinsichtlich der Gesamtkonstruktion die längste Brücke dieser Gattung. Ihre hohe Bedeutung resultiert aus dem hier sichtbaren Entwicklungsschritt in der Geschichte der Brücken- oder generell der Stahlkonstruktionen. Betrachtet man deren Geschichte, lassen sich leicht Meilensteine oder Schlüsselwerke der Entwicklung entdecken. Dazu gehören: die erste Eisenbrücke überhaupt über den Severn in Ironbridge, der Kristallpalast von Joseph Paxton zur Weltausstellung in London von 1851, die Schokoladenfabrik Menir in Noisel sur Marne als Pionierbauwerk der Stahlfachwerkbauweise  oder die Galerie de Machiné und der Eiffelturm zur Weltausstellung 1889 in Paris. Die Müngstener Brücke ist dieser Reihe dazuzurechnen. Es ist eines der Beispiele für die zunehmende Kompetenz der Ingenieure und der Bauwissenschaft im deutschen Sprachraum im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Entwicklungsgeschichte sich an erhaltenen Beispielen leider nicht mehr vollständig erhaltener Bauwerke besonders aus dem Gebiet des Großbrückenbaus ablesen lässt. Zu den Hauptwerken dieser Entwicklung zählen die großen Gitterträgerbrücken im Zuge der preußischen Ostbahn über Nogat/Weichsel und Rhein(nicht erhalten), die ersten reinen Fachwerkträgerbrücken, Zwei- und Dreigelenkkonstruktionen(Bahnsteighalle Frankfurt a. M.) und im 20. Jahrhundert die Kastenträger- und Schrägseilbrücken(Deutzer Brücke in Köln / Theodor-Heuss-Brücke in Düsseldorf). In dieser Reihe nehmen die Bogenbrücken mit ihrem Anspruch auf eine herausragende Ästhetik einen besonderen Platz ein und die Müngstener Brücke leitete mit der beispielhaften Umsetzung von theoretischem Wissen in Baupraxis den Weg zu den Bogen-Großbrücken des 20. Jahrhunderts ein. Der Stahlbau hat generell einen großen Beitrag zur Verwissenschaftlichung des Bauens geleistet.  Deutsche Ingenieure hatten an dieser Entwicklung einen wesentlichen Anteil. Die Müngstener Brücke ist eines der besten Objekt in Deutschland an dem diese Entwicklung nachvollzogen werden kann. Die grandiose Umsetzung der im System der Bogenbrücken verborgenen Möglichkeiten für ein formvollendetes und landschaftsbezogenes Bauen komplettiert den Bedeutungsgehalt dieses Bauwerks, dem auch diesen genannten Gründen eine nationale Bedeutung zugeordnet wird. Die Müngstener Brücke ist wegen des Beitrags zum Stahlbau, zum Großbrückenbau, zur Verwissenschaftlichung des Bauwesens und als Beispiel für die gute und landschaftsbezogene Gestaltung einer Ingenieurkonstruktion ein Bauwerk von nationaler Bedeutung.

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Ironbridge über den Severn, westlich von Birmingham. 1776-79

Literatur
Berg, Adolf von: Die Thalbrücke bei Müngsten und die Strecke Remscheid – Solingen, Remscheid 1997

Die Kaiser-Wilhelm-Brücke. Größte Eisenbahnbrücke des Kontinents in der Bahnlinie Solingen-Remscheid gelegen, Remscheid 1897 3. Auflage

Die Müngstener Brücke. Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke aus Stahl, in: Industriearchäologie 30, 2006, H. 2, S. 8-13

Die stählerne Vision. Legende und Wahrheit der Müngstener Brücke. Wuppertal o. J.

Carstanjen, Max: Der Thalübergang bei Müngsten in der Eisenbahnlinie Remscheid – Solingen, in: Centralblatt der Bauverwaltung Nr. 16 vom 20. April 1895

Dietz, W.: Die Kaiser Wilhelm-Brücke über die Wupper bei Müngsten im Zuge der Eisenbahnlinie Solingen-Remscheid. 2 Bde, Berlin 1904

Holschbach, Hermann: Remscheid sucht seinen Weg zum Rhein, Remscheid 1972

Kais, Kurt: Der Brückenschlag bei Müngsten. Die Eisenbahnlinie Solingen-Remscheid(Rheinisch-Bergische Eisenbahngeschichte Heft 1), Leverkusen 2001

Kurrer, Karl-Eugen: Die Geschichte der Baustatik, Berlin 2002

Rieppel, Anton: Die Thalbrücke bei Müngsten, 1897 (Reprint einer Folge von Beiträgen in Ztschr. Des Vereins Dt. Ingenieure 1897, Düsseldorf 1986 VDI-Verlag)

Schierk, Hans-Fried: Die Talbrücke bei Müngsten. Vor 100 Jahren begann der Bau dieses Meisterwerks der Ingenieurbaukunst, in: VDI-Gesellschaft für Bautechnik. Jahrbuch 1994

Sieper, Bernhard: Die stählerne Vision. Legende und Wahrheit der Müngstener Brücke, Wuppertal o. J.(1968)
Soechting, Dirk: Die Eisenbahnbrücke bei Müngsten über die Wupper, Erfurt 2005

Stier, Bernhard / Krauß, Martin: Drei Wurzeln – ein Unternehmen. 125 Jahre Bilfinger Berger AG, Institut für Unternehmensgeschichte, Heidelberg 2005

Trautz, Martin: Maurice Koechlin – Der eigentliche Erfinder des Eiffelturms, in: db Deutsche Bauzeitung, Heft 4 – 2002, S. 105-110

Trautz, Martin / Voormann, Friedmar: Der Bau eiserner Brücken im Südwesten Deutschlands 1844-1889. Ein Überblick mit besonderem Bezug auf die Firmengeschichte der Eisenwerke Gebrüder Benckiser in Pforzheim, in: Der Stahlbau 2012, H. 2 (in Vorbereitung)

Walbrach, Friedrich: Die Müngstener Brücke. Umland, Vorgeschichte, Bau und Rettung, in: Jahrbuch für Eisenbahngeschichte 36, 2002, S. 33-76

Walbrach, Karl Friedrich: Der Schöpfer der Müngstener Brücke – Anton von Rieppel vor 150 Jahren geboren, in: Jahrbuch für Eisenbahngeschichte 34, 2001, S. 77-84

Walbrach, Karl Friedrich: Der Brückenbauer: vor 150 Jahren wurde Anton von Rieppel geboren, in: Geschichte und Heimat 69, 2002, S. 1-4

Werner, Ernst: Die Eisenbahnbrücke über die Wupper bei Müngsten 1893-1897(= Arbeitsheft 5 Landeskonservator Rheinland), Bonn 1975

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